Der „Arbeitsweg“ von Christas Haus zum Health Post ist ganz anders als ein Arbeitsweg in Deutschland. Kein Verkehrslärm, kein Gedränge in der U-Bahn, sondern zuerst geht es einen steilen Fußpfad bergauf und dann noch ein paar Minuten eben dahin. Es ist herrliches Wetter, vielleicht 20 Grad, morgens immer ein milder Wind (im Gegensatz zu nachmittags, da wird’s wild) und ein atemberaubendes Bergpanorama! Zuerst hat man einen weiten Blick über die terrassierten Hügel – Hügel sind in Nepal auch schon zwei bis dreitausend Meter hoch – und dahinter zieht sich die schneebedeckte Himalaya-Kette von rechts nach links, soweit man schauen kann.
Der Health Post ist ein kleines Häuschen mit mehreren ebenerdigen Zimmern, eines davon ist als Behandlungsraum vorgesehen. Die Einrichtung ist ganz einfach, aber es ist alles da. Ein Tisch, ein paar Stühle, Schränke und eine Untersuchungsliege. 2 kleine Fenster mit dicken Holzläden. Wenn man die öffnet hat man Licht, den unbeschreiblichen Himalaya Blick, aber auch den vollen Durchzug, denn Fensterscheiben gibt es nicht. Fließend Wasser ist nicht vorhanden, aber ich habe mir natürlich ausreichend Desinfektionsmittel mitgenommen. Dachte ich.
Schon beim Betreten des Raumes kommt wie selbstverständlich Hund Betayo mit herein und rollt sich unter meinem Stuhl zusammen. Scheint sein gewohnter Platz zu sein. Ich schiebe ihn wieder raus, denn erstens bin ich allergisch gegen Hunde und zweitens gehören Hunde nicht in eine „Arztpraxis“. Dann kommt der erste Patient herein, mit ihm auch gleich noch ein paar Leute, Freunde, Nachbarn und wieder der Hund. Alle reden durcheinander, setzen sich auf den Boden, die Kinder hüpfen interessiert durch den Raum. Betayo – wieder unter meinem Stuhl – begrüßt jeden Neuen freudig, indem er zwischen meinen Beinen aufsteht und mir mit dem Schwanz durchs Gesicht wedelt. Ich versuche nochmal vergebens deutsche Verhältnisse im Behandlungsraum einzuführen, gebe auf, schmeiße mir Antihistaminika ein und fange an.
Bin ich froh, dass Sebastian da ist. Ich selbst verstehe natürlich kein Wort. Derjenige, der eigentlich dolmetschen sollte ist weg, also muss Mohan herhalten, der sich um Christas Haus kümmert. Er kann allerdings kaum Englisch, aber Sebastian kommt zurecht. Inzwischen steht übrigens eine kleine Baby-Ziege mitten im Behandlungsraum. Ich bitte Sebastians kleine Tochter, die Ziege rauszutragen und versuche eine hustende Patientin mit dem Stethoskop abzuhören. Dummerweise reden alle auf die alte Frau ein, die in ihren roten Tüchern und den Nasen- und Ohrringen in dem gegerbten Gesicht umwerfend aussieht. Sie antwortet jedem höflich und lautstark, was mir bei angelegtem Stethoskop die Ohren dröhnen lässt. Irgendwie gelingt es Sebastian, mir zuliebe für kurze Zeit alle raus zu schmeißen, die nicht in ein Arztzimmer gehören. Die Betonung liegt aber auf kurz. Die Tür geht nach ein paar Minuten wieder auf, Betayo bringt einen Hundefreund mit, ein Hahn will auch rein, wird aber erfolgreich abgehalten und noch mehr Leute sind jetzt in dem kleinen Raum. Eigentlich sind es gar nicht so viele Patienten, aber der Health Post scheint auch ein sozialer Treffpunkt zu sein. Aus einem der Zimmer wird Tee und Essen verkauft. Das ist ganz praktisch, denn die hustende Patientin bekommt neben ihren Pillen einen dicken Löffel Honig, den man ihr aus dem großen Glas im Medizinschrank direkt in ihren Teebecher fließen lässt.
Von Sebastian lerne ich ganz schnell, worauf es ankommt. Z.B. dass man den Patienten nicht alles glauben darf, was sie berichten. Jeder Patient zahlt 5 Rupien, das sind umgerechnet ca. 5 Cent für die Behandlung incl. Medikamente. Für diese 5 Rupien will der Patient auch etwas haben, d.h. er will keine guten Ratschläge, sondern Medizin. Inzwischen wissen einige ganz genau, was sie sagen müssen, um von den „weißen Doktoren“ die vermeintlich immer und gegen alles wirksamen, hochgeschätzten Superpillen, sprich Antibiotika, zu bekommen. Also Vorsicht ist geboten, die Anamnese wird zu einer echten Herausforderung.
Aus dem Augenwinkel heraus sehe ich plötzlich, dass ein kleines Mädchen meinen benutzten Untersuchungshandschuh aus dem Mülleimer gefischt hat. Die teuren Handschuhe werden hier kaum verwendet, ich habe meine eigenen mitgebracht. Das kleine Mädchen ist völlig fasziniert von den dehnbaren, fünffingrigen Dingern und hat sie schon mit der benutzten Seite über ihre eigenen Hände gestülpt. Ich stürze rüber, reiße ihr die Handschuhe weg und schütte meine halbe Desinfektionsflasche über ihre kleinen Hände. Alle schauen mich völlig verdutzt an, was die neue Frau Doktor jetzt wieder für einen Zirkus macht.
Lustig ist auch die Patientendokumentation. 2069-2-1 muss ich als Datum schreiben. Nach dem nepalesischen Kalender schreiben wir heuer das Jahr 2069, 2. Januar. Deswegen hatten wir an diesem Tag so viele Patienten mit Bauchschmerzen und Durchfall. Es war einen Tag nach dem nepalesischen Neujahr, da wurde wohl kräftig gefeiert. Nächstes Problem ist der Name. Anscheinend sagen die Patienten mal den einen oder den anderen Namen, so dass man sie in der eh lückenhaften Kartei nie wieder findet. Auch das Alter ist nicht eindeutig. Viele wissen nicht, wann sie geboren sind. Alle im Raum Anwesende schätzen dann gemeinsam, das ist also auch kein Identifizierungsschlüssel. Der nepalesische Patient sieht eh nicht ein, was das alles zur Sache tut. Er will ja einfach nur seine Medizin und wir stellen all diese unnötigen Fragen. Dass es vielleicht erforderlich ist, zu wissen, ob sein Baby vor 2 Monaten nicht schon einmal entwurmt wurde, leuchtet hier keinem ein. Je öfter und je mehr Medizin, desto besser ist die Devise.
Im Health Post gibt es überhaupt keine Technik. Ich habe nur mein Stethoskop, kein Labor, kein EKG, kein Ultraschallgerät, kein Internet, kaum Bücher. Ich habe allerdings einen Ebook-Reader mitgebracht, auf dem ich alle möglichen medizinischen Unterlagen im PDF-Format zum Nachschlagen gesammelt habe. Der erweist sich als ungemein wertvoll, zumal der Akku angeblich wochenlang hält. Es gibt nur einen kleinen Nachteil. Der berührungssensitive Schirm reagiert auf jede Fliege, von denen es im Health Post viele gibt. Da gibt es noch einiges an Verbesserungsbedarf für die Entwicklungslandtauglichkeit.
Ich lerne unglaublich viel in diesen ersten Tagen. Plötzlich ist die Studentenzeit in der deutschen High Tech Umgebung ganz weit weg und wir müssen hier mit den einfachsten Mitteln zurechtkommen. Mehr haben die meisten Menschen nicht zur Verfügung … wir sind die Ausnahme, nicht die!
Was hat das jetzt alles mit Öfen zu tun, werdet ihr Euch fragen. Die hustende Patientin, von der ich oben erzählt habe … ich habe sie natürlich gefragt, ob sie einen Ofen hat. Nein, hat sie nicht. Eigentlich dachten wir, die ganze Umgebung um Dhadagaun ist gut versorgt. Warum hat sie keinen? Das ist nicht rauszukriegen. Ob es an Mohans mangelndem Englisch liegt, ob sie nicht versteht, worum es geht, die Kommunikation ist schwierig. Oder hat sie neu gebaut? Oder hat wie vielleicht damals nicht die Steine vorbereitet oder den Ofenbauer nicht mit Essen versorgt? Wir bekommen es nicht heraus. Was allerdings klar wird: wir haben schon wieder Lücken in den bereits mit Öfen ausgestatteten Gebieten. Es gibt noch viel zu tun.
Zum Abschluss: Momentan gibt es leider nicht allzu viele Fotos vom Health Post Leben. Wenn ich mich etwas eingewöhnt habe, kommt sicher noch mehr.
Und noch etwas für die Hundefreunde: Betayo soll alleine hier bleiben, er kann nicht mit nach Deutschland genommen werden. Im Moment versuchen alle, hier in Nepal jemand zu finden, der sich zukünftig um ihn kümmert. Sollte das nicht gelingen, gibt es in Deutschland jemand, der ihn aufnehmen würde? Als herrenloser, streunender Hund in Nepal ist nicht zu erwarten, dass es ihm besonders gut gehen wird.