Bis mittag muss man ein windgeschütztes Plätzchen gefunden haben. Die Schwemmebenen des Kali Gandaki, auf knapp 3000 Meter Höhe liegend und eingerahmt von Berghängen, die 3000 bis 4000 Meter höher reichen, sind eine Einladung an den tibetischen Gott des Windes, sich ordentlich auszutoben und dem Trekker Sand in die Augen zu blasen oder ihn gleich umzuwerfen.
Die tibetischen Dörfer, Oasen in der trockenen Bergwüste, sind perfekt auf diese Verhältnisse eingerichtet. Der Sturm kann nicht in die engen Gassen zwischen den mehrstöckigen Lehmbauten eindringen, auf deren Flachdächern zusätzlich das Brennholz zu Schutzwällen aufgeschichtet ist. Geräumige aber tiefe Innenhöfe halten den Wind fern und geben der zuverlässig scheinenden Sonne Gelegenheit, Wärme zu verbreiten.
Vor sechs Tagen sind wir in Beni, einer der größeren Ansiedkungen im Kali Gandaki Tal, losgelaufen. Auf einer Höhe von 850 Metern findet man hier die subtropische Vegetation der Täler des nepalesischen Hügellandes mit Reisfeldern und Bananenstauden und über 30 Grad im Schatten zu dieser Jahreszeit – man muss sich nicht bewegen um zu schwitzen. Darüber stehen weiß und kalt glänzend die eisbepackten Bergriesen, unsere Wegweiser für die nächsten Tage. So wie es der Flusslauf uns vorgibt, steigen wir nun jeden Tag ein Stück höher. Zunächst langsam, noch zwei Tage im warmen üppigen Grün.
Dann wird die Vegetation merklich alpiner, die Abhänge werden schroffer und der Fluss wilder. Kali ist das nepalesische Wort für schwarz. Das Wasser des Kali Gandaki ist dunkelgrau, herrührend vom Gestein im Oberlauf. Alle Hänge, Berge, Strecken sind doppelt oder dreimal so groß wie zuhause. Wir müssen den Kopf jetzt schon tief in den Nacken legen, wenn wir zu den Eisreisen aufschauen.
Kaji, unser Führer, zeigt auf einen Punkt im Gelände und sagt: „Two hours“
Meine Erfahrung aus den Alpen sagt: „Eine Stunde, höchstens“
Ich sage: „That far, are you sure?“
Kaji sagt nichts, sondern wackelt nach nepalesischer Art mit dem Kopf, das bedeutet „Ja“. Und er behält Recht.
Seit einiger Zeit sage ich nichts mehr, sondern seufze und gehe weiter.
Diese Berge sind wirklich groß!
Ein zweiter Absatz und ein schweißtreibender Tag bringen uns schließlich auf die Schwemmebenen. Plötzlich ist alles anders. Der vorher wild tobende Kali Gandaki teilt sich in viele Arme auf und fließt gelassen über die weite Ebene. An den Hängen wird der Pflanzenwuchs spärlicher, das Flussbett ist vegetationsfrei. Wir haben die Hauptkette des Himalaya durchschritten und befinden uns jetzt auf der ariden Nordseite des Gebirges. Rechts grüßt die Annapurna, links der Dhaulagiri, zwei Achttausender. Gerade noch waren wir in Nepal, vor uns liegt Tibet.
Weitere zwei Tage werden wir jetzt den weiten Ebenen folgen bis wir in Kagbeni die Grenze zwischen lower und upper Mustang erreicht haben. Aus der Bergtour ist erst mal eine Flachwanderung auf 2800 Meter Höhe geworden, ideal für die Anpassung und Vorbereitung auf größere Höhen.